DAS 17.JAHRHUNDERT AM FREITAG
Den Herbst, der jedes Jahr von Neuem überraschend Einzug hält, begrüßen wir heute mit einer Bücher- und Grafikliste, die ein botanisches Werk von besonderer Schönheit und Pracht enthält. Es handelt sich um das Florilegium Hortus Eystettensis von 1613, das aufgrund seiner Seltenheit und somit seines Wertes zumeist nur aus der Ferne bewundert werden kann. Nun liegt es tatsächlich im Ladengeschäft des Tresor am Römer für unsere Kunden zur Ansicht bereit. Das Betrachten der Kupferstiche wiegt jegliche Mühsal auf, die mit dem Anheben dieses 17 Kilogramm schweren Werkes einher geht. Die Pflanzen, dargestellt auf 367 Groß-Foliotafeln, entstammen der Gartenanlage von Eichstätt und sind nicht nur einheimischer Natur. Neben dem Gänseblümchen sehen wir erstaunt eine üppige Artischocke, eine verschlungene Aloe Vera sowie ein Kaktusgewächs, vor dem wir uns seinerzeit eher einen südamerikanischen Indianer oder einen mexikanischen Tapir denn den Fürstbischof Johann Konrad von Gemmingen vorstellen mögen. Der rege Handel niederländischer Kaufleute machte nicht nur den Kauf von Tulpenzwiebeln, derer es an die 500 verschiedene Sorten in Eichstätt zu finden gab, möglich, sondern auch von exotischen Pflanzen, die die Neugierde der Botaniker und der Besucher des Gartens ankurbelte. Die schlichte Lust am Betrachten der Blütenprachten, der Pflanzenformen und ihren Farben wurde in diesem Garten gefeiert und gab ihm durch frei umherlaufende und -fliegende und vor allem singende Vögel den Anstrich eines Paradieses.
So ist es kein Zufall, dass Basilius Besler, der von dem Fürstbischof Anfang des 17.Jahrhunderts beauftragt wurde, den Garten anzulegen und später das monumentale Kupfertafelwerk zu realisieren, dass dieser Apotheker die Pracht der Pflanzen geschickt durch farbliche und formale Zuordnungen in naturgetreuer Größe auf Groß-Folio-Blättern feiern ließ. Zuerst jedoch mussten die Pflanzen von Eichstätt nach Nürnberg transportiert werden, immerhin 80 Kilometer, um ohne Begleiterscheinungen wie Reisemüdigkeit oder andere Erschöpfungszustände den Zeichnern für das Porträt eine gute Figur zu machen. Empfindliche Pflanzen allerdings verkrafteten die große Distanz nicht, woraufhin sich Besler einen eigenen Garten anlegte, auch um die botanischen Eigenheiten zu studieren. Nach ungefähr 7 Jahren, in denen Zeichner, Kupferstecher, Botaniker, Ratgeber, Drucker und Illuminatoren an diesem wuchtigen Barockwerk gearbeitet haben, lagen endlich um die 300 Exemplare vor. Das eine, das sich nun in Frankfurt am Main befindet, bezeugt barocke Sinnenlust. In diesem Werk scheint jeder Sonnenblumenkern, jedes einzelne Wurzelhaar, jedes Artischocken-, ja, jedes winzige Blütenblatt eine stolze Freude auszustrahlen, die den Betrachter einlädt zu einem Fest, das die Vielfalt der Botanik vorführt und heute die Bücher und Grafiken der folgenden Angebotsliste ehrt.
J.W. GOETHE UND ZEITGENOSSEN
Der stetig wiederkehrende Geburtstag von Johann Wolfgang Goethe und die damit verbundenen Festivitäten geben uns Anlass, unsere Angebotsliste unter dem Frankfurter Sternenhimmel des Monats August zu präsentieren und feierlich darzubieten. Wir stellen uns vor, dass der Tresor am Römer die räumlichen Möglichkeiten für eine Geburtstagspolonaise bietet, die am 28.August im nicht weit enfernten Großen Hirschgraben 23 im Geburtshaus eintanzen wird. Ausgerechnet Horace Walpole führt die Polonaise mit seinem Schauerroman The Castle of Otranto, a Gothic Story an. Es handelt sich um die zweite englische Ausgabe aus dem Jahre 1765, in der Walpole seine Autorenschaft gesteht. Goethe hat später, nämlich im Jahre 1798, von A.W.Schlegel die deutsche Ausgabe ausgeliehen, die bereits “von lauter eleganten Händen so abgelesen” war. Christoph Martin Wieland, der dem Gruselromanautor mit gleich acht Titeln folgt, erlaubt sich einen Spaß und haucht ihm wegen des Schauereffekts in den Nacken. Der spitze englische Schrei und das anschließende wiehernde Gelächter, das an ein genecktes Welshpony erinnert, lässt die Feiernden “Ohhhh, wie schöööön schaurig!” oder “Nieder mit Manfred, dem Tyrannus!” ausrufen. Der Theologe Johann Spalding, der unweit von Wieland in der Polonaise mitzieht, fällt mit seinem übermütigen Ausruf auf “Wieland, Du alter Don Sylvio… hast du Deine Märchenprinzessin gefunden?” und möchte wohl Bezug auf den vorhandenen Roman Don Sylvio von Rosalva nehmen, der ihn vermutlich verärgert hat aufgrund seiner Frivolität. "Mitnichten", ruft dieser zurück “aber eine göttliche Fee kam zu mir.” Erstaunt sieht man, wie der Protestant trotz der Fee nicht seine Stimme, sondern seine Waden und seinen Talar für einen tänzerischen Wechselschritt hebt.
Auch tanzt der unbeliebte Friedrich Nicolai mit, der gerne seine freche Wertheriade von 1775 in die Runde zeigt. Als man ihn nicht beachtet, krakeelt er “Wo is denn das Geburtstagskind? Flennt wohl mit Karl Wilhelm, wa?”. Doch jetzt ist er zu weit gegangen. Karl Wilhelm Jerusalems tragischer Suizid berührt die Gäste nach wie vor. Lessing, der die Aufsätze des Unglücklichen 1776 posthum herausgab, möchte diese Despektierlichkeit strafen. “Sag', was Du nicht lassen kannst, Nicolai, doch sei auf der Hut.” (Leser der Emilia Galotti erkennen natürlich sogleich das Wortspiel.) Wir mögen kaum hinsehen und hören einen Schrei, ein Poltern folgt und die Wertheriade fliegt durch die Luft. Dann weht Erleichterung durch den Raum und es ertönt ein fröhliches Bellen. Der Mops ist zurück aus Südfrankreich, hinter ihm der müde Thümmel, dessen Reiseroman ein großer Verkaufserfolg geworden ist. Der Autor hängt sich nicht an die Polonaise, sondern erzählt der interessierten Sophie von La Roche, dass er höhere Honorare als Goethe erhält. Der Mops läuft indessen zu einer attraktiven Pudeldame mit rosa Schleifchen, die auf einer Radierung von Georg Melchior Kraus zu Das Römische Carneval abgebildet und so über die Hundewelt hinaus bekannt geworden ist. Die beiden, nachdem sie einmütig ihre gemeinsame Schindluldernatur erkannt haben, traben lässig wie Bonnie und Clyde zu der grünen Ledertasche, die Bettina von Arnim kurz zuvor abgestellt hat, um die Polonaise hopsend zu erweitern. Sie, die von Statur größere Pudeldame, setzt sich vor die geräumige Arbeitstasche. Er, der Mops, nähert sich ungesehen und schnüffelt daran herum. Es geht ihm nicht um Nahrungsmittel. Das wäre zu profan. Er, der polyglotte Mops, der Frankreichs Landschaften genossen hat, von entzückenden Französinnen gestreichelt wurde, an verführerisch seidigen Kleidungsstücken gerochen hat, ja sogar ein originales Ölgemälde von Boucher hat auf sich wirken lassen und so seinen Sinn für Ästhetik erweitert hat, ist an Außergewöhnlichem interessiert. Kurz denkt er noch an Goethe - vermutlich wegen des Motivs des Boucherbildes - doch schon ist seine Neugierde wieder in dieser Tasche gefangen. Er entdeckt ein Tintenfass, Schreibfedern, Bleistiftminen sowie zwei Stricknadeln und schließlich die Erstausgabe des Trauerspiels Die natürliche Tochter von Goethe. Dieses Büchlein hat es ihm wegen des handbemalten Seidenbezugs angetan. Hektisch atmet er durch die platte Nase und nimmt das Buch mit seiner viel zu kurzen Hundeschnauze - eine Behinderung, die er mit Fassung trägt - an sich. Gerade sieht man noch einen Kringelschwanz und eine buschige Pudelrute von hinten in der Tür des Tresor am Römer, die dann beide über das Pflaster der Braubachstraße - jedoch nicht wie erwartet in Richtung Hirschgraben - wedeln. Ob sie auf dem Geburtstagsfest im Geburtshaus von Johann Wolfgang Goethe auftauchen werden, können wir gerne Interessierten nach dem 28.August berichten.
KINDERBÜCHER AM FREITAG …
… vergnügen nicht nur Kinder, sondern auch Tierfreunde, Frohnaturen, Miesepeter, Pädagogen als auch Anti-Pädagogen, Freunde abwegiger Pfade, Liebhaber von Lügengeschichten, Träumer, Surrealisten, Unterweltler und Versinkende. Letztere werden blubbernd empfangen von Meerestieren der vielseitigen Künstlerin Lou Scheper-Berkenkamp, die am Bauhaus in Weimar studierte und in ihren Kinderbüchern Schrift und Illustrationen zu Bildern vereinte. In Die Geschichten von Jan und Jon und ihrem Lotsen-Fisch leitet eben dieser hilfreiche Fisch die beiden, nämlich Jan und Jon, über das Meer, in das sie hineinsinken werden. Auf gebräuntem Nachkriegspapier im mehrfarbigen Offsetdruck schwimmen drollige Fische, saugt der Strudel-Drache, sitzen der Meeresgott, die Meer-Mädchen und der Fisch-Tod. Auch durch seine atmosphärisch intensive Farbwelt und eine flinke, zart schwebende Formsprache zieht das seltene Kinderbuch uns und das freudig erregte Tiertrio in den Bann. Diese drei, nämlich der Hase aus dem Struwwelpeter, der Rabe, eines der Tiere von Feodor Flinzer, und Snuffly Snorty Dog mit seinem grünen Schwanz haben sich darauf geeinigt, einige Zeilen aus Komische Thiere zur Belustigung des Freitagspublikums darzubringen, um so für das folgende Angebot zu werben. Das Signal gibt sogleich der Quakerling, denn er gehört der Kunstgesellschaft an, die mit ihren akrobatischen Vorführungen die Tierwelt aus Feldlöchern und Wiesennestern anlockt und sie in Erstaunen versetzt.
Doch als den größten Hochgenuß,
Das Ende von dem Liede,
Gab man auch dieses Mal zum Schluß
Die Riesenpyramide.
Die stellte selbst Herr Quakerling
Mit acht von seinen Rangen,
Die plötzlich auf des Alten Wink
Ihm auf die Schultern sprangen.
Sie schwangen sich mit Fuß und Hand
Turmhoch empor behende,
Der kleine Piepsel oben stand
Und klatschte in die Hände.
Die Gruppe hob sich wunderbar
Vor den erstaunten Blicken;
Der Piepsel doch vor allen war
Des Publikums Entzücken.
Da brach ein toller Jubel an,
Ein Hopsen und ein Flattern;
Ein wahrer Beifallssturm begann
von Klatschen und von Schnattern.
Die Enten und die Hühnerschar,
Die Amseln und die Mäuschen,
Der alte biedre Krebs sogar
War gänzlich aus dem Häuschen.
Mit nie gesehner Eleganz
Warf Eidechslein, das süße,
dem Künstler einen Lorbeerkranz
Gerade vor die Füße.
Erschrocken sprang der Alte weg
Mit seinen Kindern allen;
Die Künstlergruppe sah vor Schreck
Man auseinander fallen.
(Anmerkung des redaktionellen Hilfsdienstes: Der Fortgang wird hier nicht verraten. Nur die letzte Strophe sei zitiert, um den spektakulösen Verlauf der artistischen Aufführung anzudeuten.)
Zurück kam unsre Truppe nie;
Sie konnt' es nicht vergessen,
Daß man ihr bestes Kunstgenie
Beinah hätt' aufgefressen.
OH LA LA! EROTICA AM FREITAG
ch, wer möchte sie nicht hören, Worte des Begehrens und des Entzückens. In der folgenden Liste, so konnten wir uns vergewissern, sind diese Äusserungen varianten- und zahlreich. In Aspasia von C.M. Wieland begleitet eine feine Ironie die Liebe, die zwischen seelischer und körperlicher schwankt, und verleitet uns sogleich zum Zitieren dieser passend rhythmisierten Verse, um entrückt einen kurzen Moment im dahinschwindenden Klang zu verweilen. Er schlägt, indem er spricht, den Arm um sie herum / Und schwärmt ihr von der Art, wie sich die Geister lieben / Die schönsten Dinge vor, mit einem Wörterfluß, /mit einer Glut, daß selbst Ovidius Corinnens Kuß nicht feuriger beschrieben. Alternativ zu der Kunst des erotischen Verssoges kann hier ein singender Krüppel aus Pantschatantra vorgestellt werden. Er singt mit himmlischer Stimme ein Lied, lesen wir erstaunt und blättern, die Illustrationen von Richard Janthur vorerst mit einem schnellen Blick erhaschend, neugierig weiter. Als die verheiratete Brahmanin dies hörte, lesen wir, wurde ihr Herz von dem mit dem Blumenpfeil gewaffneten (Liebesgott) gequält; sie ging zu ihm und sagte: “Lieber! Wenn du mich nicht liebst, so begehst du an mir das Verbrechen des Frauenmords!” Das Moment der Leidenschaft steigert sich - dies sei bereits angedeutet - im weiteren Fortgang der Fabel noch, um am Ende an der Brahmanins lustvollen Körper zu zerren. Der Beschreibung dieser fatalen Erotik in Indien folgt Der bestrafte Wollüstling aus Wien von Franz Blei, der Fräuleins wortreich zu überzeugen vermag. Er sagt Antoinette etwas über ihr Ohr, eine kleine rosenfarbige Muschel, und dass sie sehr schön sei, dass er ihre gleitenden Hüften und noch mehr sehe … Symbol … Freiheit … er betont die fehlende Feinfühligkeit bei anderen, um die seine hervorzuheben … steigert sich, erwähnt den Schrecken der Welt … bis Antoinette noch glühender von seinen Worten ward. Diese erotische Arabeske wurde 1921 verlegt, ein Jahr in dem auch der Gedichtband Aber die Liebe von Richard Dehmel, mit von Willy Jaeckel in Kaltnadel gezogenen aufflammenden Leibern, veröffentlicht wurde. Oder von Curt Corrinth Mo Marova, ein Buch, das im selben Jahr einem lesenden Publikum dargeboten und welches von dem grellen Rosa des Seideneinbandes gereizt wurde. 1732, wir empfehlen hier zwei Bände im Groß-Folio-Format mit 130 Kupferstichen, nutzten Künstler wie Charles Le Brun die Métamorphoses von Ovid, um Bedürfnisse zu wecken. So scheint der Stoff den Oberarm der Göttin Diana nur zu umhüllen, um kurvenreich vom Oberkörper herabsinken zu können - fast geräuschlos, lediglich begleitet von leisen Seufzern und dem raschelnden Geräusch umblätternder Papierseiten.
DER FRANZÖSISCHE FREITAG
Die erwartungsfrohe Zuschauerin im kobaltblau-gestreiften Sommerkleid mit dem passenden Hut, verziert mit einer noch blaueren Schleife, befindet sich eigentlich in einer Menschenmenge auf einer Pferderennbahn. Links von ihr sitzt mit übergeschlagenen drallen Beinen eine kräftige, aber elegante Besucherin des Rennspektakels, bekleidet in körperbetontem Purpurlila. Eine junge Frau mit Schwanenhals und einem ausladenen Chapeau de Paille hat vor lauter Hut nur ein freies Auge, das sie anlässlich des gesellschaftlichen Ereignisses zum Fokussieren nutzt. Den rotbärtigen Herren mit ebenso roten Hautpartien in Gesicht und Nacken, der seinen Wettschein prüft und sich dabei in Gockelpose empfiehlt, lässt sie jedoch rechts liegen. Giraffenhälse mondäner Damen wenden sich den langestreckten Pferdekörpern im Galopp zu und von Welt gibt sich auch der Herr mit englischem Bowler, unter dem ein Monokel und eine hochgezogene Augenbraue seinen passionierten Degout zur Schau tragen. So besitzt jede Figur - und dies ist eine der herausragenden Qualitäten des Künstlers Chas Laborde - Eigenarten, die gekonnt und überraschend in zartem Strich gezeichnet sind. Die augenfällige Handkolorierung der Radierabzüge mit dem quirligen Durcheinander der Pferde, der Helme, der Reiter, der Luftballons, der Wiese, der Bäume, der Flaggen und Wangen ist kein Diener des Dargestellten, sondern versprüht reichhaltige Farben-, wenn nicht gar Lebensfreude. Das Vergnügen des Betrachters ist ganz außerordentlich, so dass er aus den 20 ganzseitigen Originalradierungen der Rues et Visages de Paris erfrischt heraustritt und weitere Pläsierlichkeiten der französischen Literatur und Philosophie in der folgenden Angebotsliste entdecken kann.
DER ILLUSTRIERTE FREITAG
Illustrierte Bücher, und dies wissen wir aus eigener Erfahrung, können glückselige Momente entfachen. Heute schwelgen wir im Bettvorhang, wie ihn Aubrey Beardsley in verschwenderischer Stoffmustervielfalt gezeichnet hat. Die Radierungen von Lovis Corinth hingegen beunruhigen uns etwas, vermag er doch die Gefahren, denen Gulliver ausgesetzt ist, im Strich selbst zu entfalten. Über die Gestalten von Günter Bruno Fuchs, die sich frech auf Wellpappe fläzen, lächeln wir. Und hätten wir uns vorstellen können, dass das Flaschenteufelchen von Robert Louis Stevenson den Gruseleffekt eines Spinnentieres besitzt? Noch nie haben wir eine ernsthaftere Ironie in Strichmännchen wie in denen von Paul Klee erkennen können. Und weiterhin folgen wir fasziniert den verschlungenen Innenansichten der Geschöpfe des französischen Künstlers André Masson.
Über das gezeichnete Riesenkrokodil Karlchen und einen Herrn von gewissem Alter, der aus Karlchens Schlund herausschaut, kichern wir ständig, wenn wir eine Strohwitwe treffen oder über Sozialtheorien diskutieren. Rudolf Schlichter hingegen lehrt uns das Schaudern durch das Porträt des Vampirs von Tolstoi, denn der Blutsauger schaut den Leser an, als würde er ihn mit seinem Stahlhaarschnauzer aufspießen wollen, während der expressionistische Maler Carl Rabus das innigliche Rencontre des Liebespaars mit dem rhythmischen Gleichklang der Wellen und zwei Schiffsfähnchen im Wind begleitet und uns so den Eindruck von harmonischer Liebe vermittelt. Unseren Einleitungstext begleiten Figuren der russischen Künstlerin Natalia Gontscharowa, die Protagonisten und Umwelt formal miteinander verwoben hat und so auch eine Abhängigkeit zwischen Text und Illustrationen schafft. Die Jungfrau erhebt sich klagend aus dem Meer, dessen Wellen eine andere Formsprache sprechen als die Liebeswellen von Carl Rabus. Wir empfehlen, einige Minuten bei diesen gefühlsintensiven - passend eingebettet in derzeitiger wonniglicher Frühlingszeit - zu verweilen, bevor wir weitere Wellen ganz anderer Art in unserer vielfältigen Angebotsliste finden werden, die alle die Worte der Autoren erfrischend tangieren.
ERSTAUSGABEN DES 20.JAHRHUNDERTS AM FREITAG
Die Frage, die sich vermutlich soeben einige Empfänger unserer aktuellen Freitagsliste gestellt haben, nämlich was eine Erstausgabe so verführerisch macht, kann von uns infolge vieler Gespräche und intensiver Beobachtungen folgendermaßen beantwortet werden. Wir vermuten, dass es um Nähe und Intimität geht, denn der Sammler von Erstausgaben ersehnt .... Eine männliche Stimme: Entschuldigen Sie bitte, dass ich mich hier einmische. Ich bin Besitzer einer Sammlung von ungefähr 30.000 Buchtiteln, darunter auch zahlreiche Erstausgaben. Ich würde mich gerne zu dem Thema äußern. .... Wir schauen uns erstaunt um. Die Worte scheinen aus dem Bücherregal zu kommen. Doch unbekümmert begegnen wir dem körperlosen Organ: Wir freuen uns über Ihr Zutun. .... Stimme: Die erste Ausgabe verkörpert das verlegerische Risiko und so halte ich sie stets ehrfürchtig in den Händen. Keine Erstausgabe ist selbstverständlich, die zweite hingegen lässt auf Verkaufszahlen schließen, die die der ersten überstiegen haben. .... Unserem Erstaunen über die phantastische Stimmerscheinung folgt Geschäftstüchtigkeit: Besitzen Sie von Alfred Döblin "Berlin Alexanderplatz"? .... Jubelnde Stimme: Natürlich! .... Wir, forsch nachfragend: Mit oder ohne? .... Vorwurfsvolle Stimme: Die Damen wollen mir wohl ärgern, wa? Natürlich mit dem Schutzumschlag von Georg Salter. War ganz schön teuer, ist aber 1929 eine Novität in seiner Montageform gewesen. Die Gestaltung ist nicht nur formal sehr reizvoll, sondern auch inhaltsbezogen. All die Eindrücke der Großstadt Berlin ...
.... Wir, lauernd: Sind Sie bereit, viel Geld für Erstausgaben auszugeben? .... Misstrauische Stimme: Wieso? Wollen Sie mir eine verkaufen? .... Wir: Ja. .... Interessierte Stimme: Was hätten die Damen denn anzubieten? .... Wir, nahezu verschlagen: Eine Erstausgabe aus der Nachkriegszeit. Interessante Einbandillustration, untypisch für die Zeit. .... Wortlose Stimme: Mmmh .... Wir, flugs ergänzend: Es handelt sich nicht nur um eine Erstausgabe, sondern auch um die Erstveröffentlichung eines nicht unbedeutenden deutschen Autors. .... Auffällig neugierige Stimme: Teuer? .... Wir, gewieft: Überhaupt nicht. Trotz Bedeutung und trotz des hervorragenden Zustands. .... Bittende Stimme: Darf ich die Ausgabe mal sehen? ....Wir halten das Buch in Richtung Bücherregal empor, drehen es, als hielten wir ein wertvolles Collier in den Händen. .... Ein Seufzer aus dem büchergefüllten Regal. .... Wir, sachlich: Es gibt auch eine direkte Verbindung zu Alfred Döblin, der diesem Autor 1950 für die Titelerzählung den Großen Literaturpreis überreicht hat: "Leviathan". .... Aufgeregtes Rascheln im Bücherregal. Anerkennende Stimme: Ein schönes Exemplar. Meines ist leider schlechter erhalten. .... Und dann .... Deklamierende Stimme: "Goldig geschleiert wird die Teufels-Winter-Sonne lauern, weißrosa und ballkalt. Sie wird das Kinn vorschieben und bengelhaft den Mund spitzen, die Hüften zum Schwung heben. Starr werde ich den Arm um sie legen. Da schlenkere ich das Heft voran: flieg. Fetzen." .... Diesen zitierten Zeilen folgte nur noch die murmelnde Frage, welches Heft der Autor wohl gemeint haben mag. Dann verstummte die Stimme. Wir vermuten sie inzwischen im Zwiegespräch mit den Büchern ihrer Sammlung sowie in Überlegungen zur Literatur und deren Erstausgaben.